Seit mehr als 100 Jahren rührt eine Familie in Oberhausen nach einem Geheimrezept Eiscreme an. Mit einem großen Wagen fahren sie umher und verkaufen ihre Spezialität auf Jahrmärkten.
Schoko kommt immer am besten an. Keine Sorte mögen die Kinder, die bei Kristoffer Krenz ihr Eis kaufen, lieber. Der 35-Jährige macht sein Eis immer frisch, direkt in seinem Verkaufswagen. Wenn er den aufgebaut hat, stellt er einmal in der Stunde neue Eiscreme her. Deswegen gibt es bei ihm meist nur vier Sorten: Schokolade, Sahne, Erdbeer und Nuss.
Kristoffer Krenz schüttet die Zutaten in einen großen Metallbehälter. Der wichtigste Bestandteil ist Milch. Aus einer großen Kanne kippt er sie in seine Eismaschine, dann gibt er Sahne und Zucker hinzu – und je nach Sorte noch Nüsse, Beeren oder Schokoladenstücke. Krenz schaltet die Maschine an, die rührt und kühlt und rührt und kühlt, bis nach gut 20 Minuten eine cremige Masse entstanden ist. Die nimmt der Eisverkäufer mit einem Spatel heraus und schichtet sie direkt in die Waffelhörnchen hinein.
Die Kunden können Kristoffer Krenz zwar beim Eismachen zusehen, die genauen Mengen der Zutaten aber behält er für sich. Das Rezept für sein Eis ist streng geheim. Nur Krenz und seine Eltern kennen es. Und vor ihnen kannten es nur deren Eltern, denen es wiederum deren Eltern verraten hatten. Denn seit mehr als 100 Jahren rühren Krenz und seine Vorfahren schon Eis an und verkaufen es auf Jahrmärkten und Volksfesten.
Begonnen hat alles aber gar nicht mit eisigen Süßigkeiten, sondern mit süßem Gebäck. 1860 gründete Wilhelm Schmalhaus, so hieß der Ururururgroßvater von Kristoffer Krenz, eine Konditorei in Oberhausen im Ruhrgebiet. Dessen Sohn verkaufte selbst gemachte Waffeln auf Rummelplätzen und dachte damals: „Waffeln backen viele, wir müssen den Leuten mehr bieten. Wir machen Sahneeis drauf!“ So erzählt es heute Kristoffer Krenz.
Eis, das war damals etwas Besonderes. Man konnte es nicht einfach im Laden kaufen und zu Hause ins Gefrierfach packen. Es gab nämlich nur in den wenigsten Häusern und Wohnungen in Deutschland Kühlschränke. Wer Eis essen wollte, musste es kaufen und sofort losschlecken.
Die Waffelbäcker-Vorfahren von Kristoffer Krenz schafften sich also eine Eismaschine an. Die lief noch ohne Strom, man musste mit der Hand kurbeln, damit die Sahnecreme in einem Fass angerührt wurde. Dieses Fass musste von außen mit Eisblöcken gekühlt werden. Sonst wäre die Creme nicht fest geworden. Mit einem großen Wagen zog die Familie umher und verkaufte ihre Spezialität, so wie Kristoffer Krenz es noch heute tut.
Er hat alte Fotos vom Eisgeschäft seiner Familie gesammelt. Auf einem Bild aus dem Jahr 1925 ist ein großer Verkaufswagen; er sieht aus wie ein Lkw-Anhänger, mehrere Meter lang. Am Dach stand „Waffelbäckerei“, denn damals verkaufte seine Familie auch noch ihre gebackenen Waffeln. Das Eis war die Krönung obendrauf. Gut 25 Jahre später war ein neuer Wagen nur noch halb so lang, dafür stand ganz groß „EIS“ oben auf dem Dach, und auf der Theke stapelten sich Waffelhörnchen. Nun spielte das Eis die Hauptrolle.
Heute besitzt die Familie zwei Eiswagen. Einer wurde extra altmodisch gebaut, weil er die Kunden an früher erinnern soll. Kristoffer Krenz erzählt, dass manchmal Großeltern mit ihren Enkeln bei ihm Eis kaufen, die als Kinder schon bei seinem Opa Kunden waren.
Auch wenn das Eisrezept von Krenz und seinen Vorfahren streng geheim ist, erfunden hat die Familie das Eismachen nicht. Eiscreme aus Sahne und Milch, wie wir sie heute kennen, haben erstmals die Einwohner der beiden kleinen Täler Zoldo und Cadore in Italien hergestellt. Von dort aus brachten sie ihre Erfindung in den Norden Europas. Im Ruhrgebiet schoben um 1880 die ersten Eisverkäufer kleine Handwagen umher und verkauften ihre eisige Köstlichkeit auf den Straßen. Die Kunden bekamen ihre Eisportion aber noch nicht in Waffeln, sondern in Gläsern oder Pappbechern.
So einen einfachen Eiswagen, eine Mischung aus Schubkarre und Bollerwagen, kann man heute sogar im Museum ansehen – im Haus der Bayerischen Geschichte in Regensburg. Er gehörte einst Giuseppe Guarino, einem Italiener, der sein gelato (das italienische Wort für Eis) in den Straßen von Grafenau in Niederbayern verkaufte.
Vor etwa 90 Jahren wurde Eis in Deutschland total beliebt, alle wollten es essen. Viele Verkäufer mit kleinen Wagen zogen umher, und auch die Familie von Kristoffer Krenz verdiente gut. Bis der Zweite Weltkrieg kam. Die Waffelbackstube wurde durch Bomben zerstört, und nach dem Krieg litten die Menschen Hunger. Sie brauchten Brot, keine süßen Hörnchen. Kristoffer Krenz’ Familie aber glaubte weiter an ihr Geheimrezept – und so schmierten sie das Eis eben auf Papier. Die Kunden leckten die gefrorene Masse einfach davon ab. Für eine Portion zahlte man fünf Pfennig, so hieß das Geld damals. Fünf Pfennig, das sind ungefähr zweieinhalb Cent. Heute kostet eine Kugel Eis gern einen Euro – 40-mal so viel.
Der Eiswagen war schon immer Kristoffer Krenz’ Lieblingsort. „Ich habe beim Verkauf mitgeholfen, seitdem ich denken kann“, sagt er. „Schon als Kind war ich mit auf dem Kirmesplatz. Geschlafen haben wir dann im Wohnwagen.“ Einen anderen Berufswunsch als Eisverkäufer hatte er nie. Und auch nach so vielen Jahren in seinem Wagen probiert er immer noch gern, ob ihm sein Eis gelungen ist. Stets stellt er fest: Auf das geheime Familienrezept ist auch nach mehr als 100 Jahren noch Verlass.
Quelle: Zeit.de
Text: Hauke Friederichs